Schülerbericht von Rümeysa Y. (10 GY):
Im Rahmen des Werte und Normen Unterrichts haben wir, die Klasse 10 GY, die Shoa und das Vernichtungslager Auschwitz behandelt. Ich habe mit einer Klassenkameradin eine Präsentation zu dem Thema „Das Leben in Auschwitz“ gehalten, in der wir auch über die Biografie eines Überlebenden berichteten. Dieser Überlebende, Herr Finkelstein, der 2 Jahre in Auschwitz interniert war, hat nach einer Anfrage ein Gespräch mit der Klasse, und vorbereitend einen Besuch von mir, akzeptiert. Also gingen meine Lehrerin und ich an einem Samstag zu ihm. Natürlich wusste ich, dass alles, was er mir erzählen würde, anders wäre, als alle Geschichtsbücher und einen anderen Effekt auf mich hätte, als jede Dokumentation und jeder Unterricht.
Freundlich und erfreut begrüßte er uns und fing an zu erzählen.
Wenn ich mich heute frage, was er mir eigentlich alles erzählte, weiß ich es kaum noch. Ich erinnere mich nur an die Gefühle, die ich hatte, während er redete und was er mir für mein weiteres Leben mitgab. Wie ein Ratgeber erklärte er mir, wie wichtig Sachen sind, die ich normalerweise auf die leichte Schulter nahm. Ein wenig unterhielten wir uns auch über den Glauben. Seine Sicht und Perspektive zu diesem Thema waren sehr interessant. Ich habe mich nämlich schon immer gefragt, wie es mit dem Glauben im Krieg war. Ob man es bereut, bestimmten Glaubensrichtungen gefolgt zu sein? Ob sich eine Wut gegenüber der eigenen Religion gebildet hat oder ob man als Überlebender nach allem immer noch religiös geprägt ist? Wie steht man zu Gott nach dem Ganzen? Hegt man einen Groll wegen der Geschehnisse, ist man dankbar für das Überleben oder leugnet man Gott jetzt?
Ich erfuhr, Herr Finkelstein ist immer noch religiös und glaubt auch fest an Gott. Auch darüber unterhielten wir uns ein wenig. Er war auch neugierig, wie ich meine Religion auslebe, und als ich ihm erzählte, dass ich aus der Türkei komme und auch dort geboren bin, lächelte er und sagte: „Dann kann ich heute sagen, dass ich eine echte Türkin kennengelernt habe. Eine wahre Türkin!“
Meinungsfreiheit war auch ein kleines Thema unseres Gesprächs, so wie vieles mehr, und auch wenn es sich anfühlte, als wären erst wenige Minuten vergangen, saßen wir schon seit zweieinhalb Stunden dort und mussten uns schließlich verabschieden. Das nächste Treffen sollte an der Schule mit meiner Klasse stattfinden.
Auch dort erzählte Herr Finkelstein von seinem Leben. Vielleicht waren es 75 bis 80 Minuten, die er sprach, doch bis heute gibt es einen Satz, den ich nicht vergesse und an den ich mich immer wieder erinnere. Er war gerade dabei zu erzählen, wie lang der Weg war, nachdem sie frei gekommen waren und er fing seine Satz an mit: „Und als ich dann auf der Straße saß und mich selber aufgegeben hatte und nicht wusste, was ich mit meinem Leben anfangen kann…“ Er sprach zwar weiter, aber ich konnte mich nicht auf das Ende des Satzes konzentrieren. Sich selber „aufgeben“. Was muss das wohl heißen, das Leben aufgeben? „Als ich mich aufgab…“ Das sind Worte, die ich nie vergessen werde. Sich aufgeben. Wie wertlos sie sich gefühlt haben müssen, obwohl das Leben unbezahlbar und unersetzbar ist.